FIND 2017: Dunkle Seelen

Pablo Larraíns "Acceso". Copyright: Schaubühne / Sergio Armstrong

Hätte ich all die erschütternden Geschichten mitgeschrieben, die Roberto Farías alias Sandokan auf der Bühne nicht erzählt, sondern lebt, dann wäre mir der Zugang zu „Acceso“  verwehrt geblieben. Aber Sandokan durchbohrt mich mit seinem strengem Blick und deutet mit ausgetrecktem Arm auf meinen Stift. Ich weiß, was ich zu tun habe. Es ist seine Bühne. Nicht die meines Stiftes. 

Das Theater als Unort

Minutenlang starrt er mich an. Sandokan schwitzt stark, seine strähnigen Haare hängen ihm ins Gesicht, er trägt große Ohrringe in Form eines Holzkreuzes und eine dicke Umhängetasche, aber ich sehe nur seine blitzenden fordernden Augen. Das Theater wird zum Unort. Ein Unort, an dem Sandokan unaussprechliche Wahrheiten zu Tage bringen wird und nebenbei als trunkener Händler „Importo Serrano“-Billigprodukte mit feuchter Sprache anpreisen wird. Unweigerlich landen Schweisstropfen auf meinen Armen und Beinen. Ich fühle mich unwohl.

Sandokan ist kein Unbekannter

Die fiktive Figur des Sandokan entsprang Pablo Larraíns preisgekrönter Tragikomödie „El Club“. Wie auch im Film verkörpert Roberto Farías mit vollem Körpereinsatz den geistig verwirrten Trinker, der einst von Priestern missbraucht wurde. Im Film erschießt sich ein ehemaliger Gottesdiener vor seinen Augen, in seiner Regiedebut als Theaterregisseur konzentriert sich Larraín einzig auf die Leistung von Farías. Die Wand hinter ihm ist rabenschwarz. Das Publikum macht er zu Mitwissenden, der Zuschauerraum ist Farías Bühne.

Anklage an den chilenischen Staat

Von einer Minute auf die andere wechselt er vom eloquenten Allesverkäufer hin zum missbrauchten Opfer, dem die Liebe fehlt. In kleinen Bildern – die Hand ist der Mund, den er einst küsste – demonstriert er seine vermeintliche Sehnsucht. Der Mann mit Bauchladen wird seine Ware mit rhythmisch-monotoner Stimme anpreisen, teilweise vorführen oder an einzelnen Zuschauern demonstrieren – was durchaus zu skurrilen, teils komischen Momenten führt – , der ehemalige Priesterjunge wird mit starken Worten den Staat anklagen und nichts an den Grausamkeiten zu Jugendzeiten aussparen. Je länger er verkauft, umso tiefer taucht er in seine brutale Vergangenheit ein. Und dann wird nicht Roberto Farìas die Bühne verlassen, sondern Sardokan. Eines hat er nicht verloren: Seine Selbstachtung.

 

Weitere Informationen

„Acceso“ ist ein Stück des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín aus dem Jahr 2014. Unter der Regie von Pablo Larraìn feierte  das Stück am 1. April 2017 auf dem FIND-Festival Europapremiere. Das FIND findet von 30. März bis 9. April 2017 unter dem Motto „Demokratie und Tragödie“ in der Berliner Schaubühne statt.