Heimliches Berlin: Schreiende Bohème

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Berlin, oh Berlin, Du bist so schräg und arm, laut und hektisch und doch kann man Dich nur für das, was Du bist, lieben. Daniel Schraders Inszenierung von Franz Hessels „Heimliches Berlin“ spürt dem Berliner Lebensgefühl nach.

Trashiges Update von Franz Hessels „Heimliches Berlin“

Für die Theateradaption von „Heimliches Berlin“ legte Ballhausleiter und Geschäftsführer Daniel Schrader selbst Hand an. Franz Hessels Schlüsselroman, der 2011 nach 70 Jahren wieder verlegt werden durfte, wird einem trashigen Update unterzogen. Ausgehend von einem Berlin der 20er Jahre rennt Daniel Schrader so schnell durch die Inszenierung wie die Gentrifizierungsuhr in so manchem Stadtviertel tickt.
Update unterzogen.

Der Hipster von nebenan

Hessel beschreibt einen Tag und eine Nacht im Leben junger Menschen, entlarvt ihre Oberflächlichkeiten, indem er einen Lebemann in den Mittelpunkt stellt: Wendelin (Wieland Schönfelder), „dessen Erscheinung die Männer und Frauen seines Bereiches erfreute, ohne dass sie seinem Wesen tiefer nachforschten“. Mit lässiger Baumwolljacke in schwarz-weiß und blauglitzernder Diskohose wirkt er wie der Hipster von nebenan, der nur seinem Aussehen verpflichtet zu sein scheint. Sein Zufallslook findet bewundernde Anhänger, die sich um ihn scharen.

Kunst statt Realität

So durchsichtig wie Wendelins Wesen ist sein zu Hause. Ein Baustellengerüst hält ein gläsernes Gewächshaus im ersten Stock, die karg eingerichtete Wohnung befindet sich im Erdgeschoss und einen Türbogen findet seinen finalen Abschluss in einer Bar. Später wird es Wendelin selbst sein, der die Stadt, die das Künstlich-Künstlerische der Realität vorzieht und sich immer um sich selbst dreht, verlassen möchte.

Stadt ohne Tabus

Schrader präsentiert ein ach so bekanntes Gesicht der Landeshauptstadt. So mancher zückt hierfür den Discohut, andere nehmen ihren Hut und verabschieden sich gleich ganz, denn der Wahlberliner ist in jeder Hinsicht schonungslos zur lebenden Utopie: Skateboardend mit Smoothie im Latte-Macchiato-Becher, das wertlose Bild vom Flohmarkt hängt neben dem Sofa, auf dem sich Mann und Frau in den unmöglichsten Stellungen übereinander türmen, während im Glashaus die Weinflasche zum Sexutensil wird. Diese Stadt kennt keine Tabus.

Wahrer Charakter

Der Zuschauer erfährt das am eigenen Leibe: Fast zwei Stunden lang verkünden die Darsteller ihre mehr oder weniger bedeutsamen Botschaften schreiend, der Musiker Conrad Rodenberg gibt so manch ohrenbetäubender Szene das nötige Schlagzeuggeräusch, welches das eigene Ohr in den Puls der Stadt eintauchen lässt. Der wahre Charakter zeigt sich erst nach dem Ende des Stückes. Man selbst hat sich fast zwei Stunden lang blenden lassen. Von einem Stück, das sich selbst am wichtigsten nimmt.

Der Artikel ist am 4. September 2014 erschienen.