Leichenhalle als Schlaraffenland

Zuckerfälle in Zucker I - Pinocchio. Installation der Künstlergruppe "bösediva"

Einst wurden Leichen hier aufbewahrt. Jetzt ist es ein Pinocchio-Memorial aus Marzipan mit weißer Schokolade. Pinoccio starb den sicheren Zuckertod – Dank Walt Disney. Er nahm die grausame Originalgeschichte und kippte tonnenweise Zucker darüber. Ein bitterer Nachgeschmack bleibt.

Die Künstlergruppe „bösediva“ macht die 133 Jahre alte Geschichte von Pinocchio in Form eines überzuckerten Todesraums erlebbar. Ein langer schmaler Betonweg gibt den Blick auf ein riesengroßes Kunstobjekt frei. Es sieht aus wie eine große Eistüte und entpuppt sich als essbare Pinocchionase. Die Konstruktion besteht aus Esspapier, Marzipan, weißer Schokolade, einem Eisengerüst und ein Holzlatten, die gemeinsam zu einem schmalen Gang aus Eisengittern führen. Fast versperrt die süße Nasenspitze den Weg. Der Geruch von Schokolade verführt Besucher, zu naschen.

Nasenworld in Zucker I - Pinocchio. Installation der Künstlergruppe "bösediva"
© Susanne Gietl

Pinocchios Schöpfer, Carlo Collodi, schickte den Holzjungen 1883 ins Gefängnis, ließ ihn Hungern, bestrafte und belohnte ihn. Walt Disney schliff die Kanten ab und feierte ein Fest der Technicolorfarben, der Niedlichkeit und Abenteuerfreude. Die bösediva hinterfragt Walt Disney mit der performativen Installation „Zucker I“, den ersten Teil der Zuckertrilogie, das sich mit Hirnchemie, Himmel und Hölle auseinandersetzt.

In einer Ecke liest Neele Hülcker im grauen Jogginganzug aus Collodis „Pinocchio“. Sie liest für ein Kopfhörerpublikum. An ihrem Mikro baumelt eine kleine Holzpuppe. Sie zündet sie an. Danach hat Pinocchio nur noch ein Bein. Bei genauerem Hinsehen finden sich öfter Teile des Holzjungen. An einem Treppenaufgang baumeln seine Beine, Pinocchios gelb-roter Anzug hängt neben zehn Zuckerplatten. Sie werden „Zuckerfälle“ genannt. Später zündet Robin Detje eine Platte an. Er trägt einen hellblauen Anzug wie ein Insasse einer Anstalt. Lange Zuckerfäden bilden sich. Und der Gedanke an unterträgliche Süße kommt wieder.

Minizuckernasen in bösediva "Zucker I"
© Susanne Gietl

Am Boden liegen kleine Pinocchionasen aus Marzipan und weißer Schokolade. In einem Video sieht mich ein menschliches Auge an. Die Wimpern, die Lider, die Haut. Sie sind alle überzuckert. Es unmöglich, objektiv zu bleiben. Je länger ich mich in der langen Halle befinde, umso größer wird mein Ekel. An manchen Stellen liegen farbige Häufchen in rot oder in gelb. Pinocchios Farben. Aus Puderzucker. Jemand nascht an der Nase. Eine Klangperformance beginnt. Mit Hölzchen. An einer der vier Spielflächen zertrümmert jemand Kohle und Zucker. Ich wünschte mir, er würde sie anzünden, um einen anderen Geruch in der Nase zu haben. Nicht den von Zucker. Und trotzdem nehme auch ich mir eine kleine Zuckernase mit. Das Angebot war einfach zu verlockend.

Ein Blick in die Leichenhalle

Die Eröffnung von „Zucker I“ fand am 28. Mai im alten Krematorium in Wedding statt. Am 1. Juni öffnet die Leichenhalle das letzte Mal von 18 bis 22 Uhr die Pforten. Besucher werden Pinocchios Nase in einem ganz anderen Licht sehen, denn die Nase rückt bösediva beim Closing in den Fokus.