Als Regisseurin Mareike Engelhardt im März 2016 in einer Fastfood-Filiale eine Frau traf, die nach ihrer Rückkehr aus Syrien von ihrer Zeit als Mitglied der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) berichtete. Sie begann, intensiv zu recherchieren und entschied sich, daraus einen Film zu machen. In ihrem Spielfilmdebüt „Rabia – Der verlorene Traum“ gibt Engelhardt tiefgehende psychologische Einblicke in den Alltag eines IS-Frauenhauses. Fast 25.000 Kinder wurden dort geboren.
Der Name „Rabia“ trägt mehrere Bedeutungen. Im Arabischen bedeutet „Rabia“ Garten, während die lateinische Wurzel Wut symbolisiert. Was ist der Fokus des Films?
Der Film erstreckt sich über die Jahre 2014 bis 2017 – also den Aufstieg des Islamischen Staates bis zu seinem Fall. Innerhalb dieses Zeitraumes konzentriere ich mich auf die Entwicklung einer jungen Frau innerhalb dieses Systems, wobei es mir hauptsächlich um universelle Fragen geht: In was für Umstände muss ein Mensch geraten, um zum Täter zu werden? Wie kann es sein, dass man sich nicht nur einer Ideologie wie der des IS anschließt, sondern ein aktives Mitglied wird? Es geht um den Ursprung des Bösen und wie der Mensch zum Monster wird.
Jessica (später: Rabia) fliegt gemeinsam mit einer Freundin nach Raqqa, um sich dem IS anzuschließen. Warum war das für Dich wichtig, diese Geschichte zu erzählen?
Alles begann 2015, als mehr als 40.000 junge Menschen aus der ganzen Welt (UN-Schätzung: 42.000 Personen aus 110 Ländern) nach Syrien ausgewandert sind, um sich den Islamischen Staat anzuschließen. Für mich war es vollkommen unverständlich, wie man aus unseren demokratischen Ländern mit ihren Freiheiten auswandert, um sich einem fast mittelalterlichen System anzuschließen und in einem Haus eingeschlossen wird, für einen Mann putzt, kocht und Kinder bekommt.
„Ich habe immer mehr Parallelen zu anderen totalitären Systemen gefunden. Ich wollte einen Film machen, bei dem es nicht um den Islam geht…
…der anhand dieses Beispiels zeigt, wie Radikalisierung im Intimen stattfindet. Welche Rolle der Körper der Frau in diesen Systemen spielt. Wenn man sich diese Frauenhäuser (Madafas) anschaut, ist die Idee dahinter die einer Geburtsfabrik. So wie die Nazis in den Lebensborn die „reine Rasse“ vergrößern wollten, strebt der IS an, die Oumma (muslimische Gemeinschaft) zu vergrößern, um langfristig die Weltherrschaft zu erlangen. In beiden Fällen wird der Körper der Frau eingesperrt, dem Mann unterworfen und instrumentalisiert, indem er zur Gebärmaschine reduziert wird.
Warum tun die Frauen das?
Ich habe mich mit einer jungen Frau unterhalten, die aus Syrien zurückgekommen ist. Bei ihr ging es nicht um religiöse Motivation, sondern um eine Form von politischem Engagement – wie sie es nannte. Wie viele andere dieser Frauen geben sie vor, eigentlich helfen zu wollen, eine bessere Welt schaffen wollen. Bei seiner Rekrutierung argumentiert der IS sehr schlau. Er prangert reale Probleme unserer Gesellschaft an, allen voran die immensen sozialen Ungerechtigkeiten. Er erzählt diesen Frauen, dass dort alles anders sein wird und Menschen gleichberechtigt zusammenleben. Auch, dass keiner den anderen bestielt oder verhungern lässt.
„Dafür müsse man zwar etwas Krieg führen,
…aber danach werde alles besser. Die Frauen glauben das, oft arbeiteten sie wie Jessica (sie ist Altenpflegerin) im Dienstleistungsbereich. Das passte überhaupt nicht in mein Bild von den blutrünstigen Frauen, die nach Syrien gegangen sind, um sich diesem System anzuschließen.
Die Frauen, die sich dem Islamischen Staat anschließen, werden zu Gunsten des IS instrumentalisiert. Wie kann es sein, dass dieses System funktioniert?
Die Jugendlichen von heute wachsen in einer Welt auf, die nur von ihrem Ende spricht. Ökonomischer Kollaps, ökologischer Niedergang, himmelschreiende Ungerechtigkeiten, wo man nur hinschaut. Ich kann verstehen, dass man dem nicht nur als junger Mensch mit einem Gefühl vollkommener Hilflosigkeit gegenübersteht.
Wovon kann man heute noch träumen? Diese Wut, diese Perspektivlosigkeit, diese Angst macht sich der IS zunutze, um junge Menschen anzuwerben und ist darin extrem erfolgreich. Dieses System basiert auf einer extremistischen religiösen Ideologie, die auf alles eine Antwort hat und die existenzielle Leere wenigstens für eine Weile vergessen lässt. Du weißt, was du machst, wenn du morgens aufstehst, wie du dich anziehst, mit wem du dich verheiratest – und sogar, wie viele Kinder du bekommst.
Es gibt keine Fragen mehr. Keine Unsicherheiten mehr. Keine Angst – denn alles scheint plötzlich unter Kontrolle- sogar, was nach Deinem Tod geschieht.“
Ist das eine Art Hilfeschrei?
Wie eine Sekte ist der IS vor allem darum so verlockend, weil er Zugehörigkeit zu einer Gruppe und dadurch eine Form von emotionaler Geborgenheit verspricht, die diese Frauen zu Hause vermissen. Daher ist paradoxerweise das, was die Frauen in diese Kriegsländer zieht, nicht der Wunsch, Krieg zu führen, sondern universelle, sehr positive, emotionale Bedürfnisse, die der IS dazu benutzt, um sie in den Dienst seiner Ideologie zu stellen. Dieser Widerspruch hat mich in den Gesprächen mit diesen Frauen so berührt, dass ich darüber einen Film machen wollte. Das Versprechen nach einer echten Familie, nach Zugehörigkeit und einem Sinn des eigenen Lebens kann natürlich vor Ort nicht eingelöst werden. Wie die Frauen mit dieser Erkenntnis umgehen, ist spannend und für jede Frau anders.
Vom Inneren dieser Madafas für zukünftige Ehefrauen von IS-Kämpfern existieren keine Videos und wenige Fotos. Wie hat das die Inszenierungsentscheidungen beeinflusst?
Das Drehbuch basiert auf wahren Begebenheiten. Bei der künstlerischen Umsetzung habe ich mich entschieden, einen psychischen Raum darzustellen, um dem Zuschauer zu ermöglichen, das Erleben dieser Frauen nachzuempfinden. So konnte ich ausgehend vom Islam universeller inszenieren und mich bei den Kostümen zum Beispiel von islamischen als auch katholischen Schleiern inspirieren lassen. Wir haben zahlreiche Gestiken und Mimiken von Hitler analysiert und in die Szene, in der die Direktorin des Hauses eine Rede hält, einfließen lassen. Wir wollten zeigen, dass es hier nicht um den Islam geht, sondern um eine zeitlose Falle, in die wir immer wieder tappen.
Es gibt im Frauenhaus eine Art Klassensystem, dass Du auch durch verschiedene Stockwerke, die verschiedene Charakteristika haben, verdeutlichst…
Die Fiktion erlaubt es mir, auch Ideen über die Bildsprache zu vermitteln, die ich nicht in die Dialoge setzen konnte. Ich habe mich daher für eine ehemalige Tabak-Fabrik entschieden, um die Idee einer Geburtsfabrik visuell zu unterstreichen. Außerdem ermöglichte mir ihre vielstöckige, vertikale Architektur die Entwicklung von Jessica bildlich spannend umzusetzen. Diese durchläuft die gesamte Hierarchie des Hauses – angefangen vom Sklavenkeller ganz unten bis nach ganz oben zur Wohnung der Direktorin und dem Gebetsraum, der mich mit seiner runden Kuppel an einen Mutterbauch erinnert.
„Diese Gewalt zu minimisieren oder gar zu verschweigen,
wäre für mich moralisch nicht vertretbar gewesen.“
Eine Rückkehrerin, die selbst in Syrien war, hat Euch am Set beraten. Was hat sie vor Ort bewirkt?
Alle Szenen, die ich geschrieben habe, basierten auf dem Erleben der Frauen, mit denen ich beim Schreiben gesprochen habe. Eine von ihnen, die selbst in der Madafa der schwarzen Witwe war, hat auch den Dreh begleitet. Sie hat mir beispielsweise bei der Kriegsszene am Ende geholfen, indem sie den Darstellerinnen sehr emotional erzählt hat, wie sich damals die Bombardierung für sie konkret angefühlt hat. Die Statistinnen, von denen viele noch nie vor der Kamera gestanden sind und im wahren Leben Bäckerinnen oder Schuhverkäuferinnen sind, konnten sich so in die Szene auf eine Weise hineinfühlen, wie ich es nur schwer hätte vermitteln können.
Eine wichtige Frage ist, ob man Gewalt im Film zeigt. Wie hast Du das gelöst?
Mein Leitfaden bei der Inszenierung war, zu überlegen, wie man die fast unvorstellbare Gewalt vor Ort erzählen kann, ohne sie voyeuristisch auszuschlachten, wie es so häufig vorkommt in Filmen. Aber diese Gewalt zu minimisieren oder gar zu verschweigen, wäre für mich moralisch nicht vertretbar gewesen. Trotzdem muss man den Film anschauen können und ich muss ihn inszenieren können. Ich habe daher entschieden, die Gewalt vor Ort zu erzählen, ohne sie zu zeigen. So ist der Krieg hauptsächlich über den Ton präsent, gegen Ende hin fast dauerhaft. Und die körperliche Gewalt ist auf drei dramaturgische Schlüsselmomente der Entwicklung der Hauptfigur reduziert. Darüber hinaus erzähle ich sie über die Spuren, die diese auf den Körpern hinterlässt. Beim Schreiben des Films habe ich gelernt, dass die Realität noch schlimmer war als alles, was ich mir ausdenken konnte. Ich hoffe, dass der Film eine Erinnerung daran ist, wozu wir fähig sind und jungen Menschen als Abschreckung dient, sich einer extremistischen Ideologie zu verschreiben – egal, unter welchem Namen oder unter welcher Religion.
Weitere Informationen
„Rabia – Der verlorene Traum“ läuft seit 23. Januar 2025 im Kino. Hier geht’s zu einem anderen Teil des Interviews im nd und hier zu meiner Filmkritik auf Filmstarts.de