„Wir können mit Filmen Empathie lernen“

Porträt Kerstin Polte. Copyright: MissingFILMs
Porträt Kerstin Polte. Copyright: MissingFILMs

Regisseurin Kerstin Polte stellt in „Blindgänger“ die Entschärfung einer Weltkriegsbombe in den Fokus, entscheidet sich aber gegen ein klassisches Narrativ.

Du hast Dich entschieden, keine klassische Held:innenreise zu erzählen, sondern vielmehr einen ganzen Mikrokosmos an Figuren und Geschichten zu erschaffen. Man hätte sich leicht zum Beispiel auf die Bombenentschärferin Lane (Anne Ratte-Polle) konzentrieren können…

Eine klassische Heldinnen-Reise heißt auch immer: Wir erzählen die Welt in Funktion zu einer Held*innenfigur. Das ist eine wahnsinnig egozentrische Weltsicht. Keine andere Person darf ihr eigenes Narrativ bestimmen, unabhängig existieren. Es ist eine sehr zielorientierte Erzählung – die Wunde wird geheilt, am Ende ist man wieder „ganz“. Das funktioniert bei allen strukturellen Wunden natürlich nicht. Ich glaube, diese Dramaturgie hat unsere Welt auch ein Stück dahin gebracht, wo sie heute ist, mit Oligarchen und Diktatoren, die sich sehr wenig um die Belange von anderen Menschen und unserer Umwelt kümmern.

 

„Vielleicht brauchen wir einfach ein neues Narrativ…“

…für die Herausforderungen unserer heutigen Zeit. Filme können Brücken bauen, wir können mit Filmen Empathie lernen und begreifen, dass wir nicht der Nabel der Welt sind – und dass es manchmal für uns alle am besten ist, mal ein Stückchen zur Seite treten und anderen Menschen und Perspektiven den Raum und die Stimme zu überlassen. Das habe ich mit „Blindgänger“ und seinem multi-perspektivischen Erzählansatz versucht.

Wie hat Dir die Wahl des Ensembles dabei geholfen?

Ich habe sehr lange mit meiner tollen Casterin Marion Haack geschaut, welche Person die richtige für die Rolle ist, auch im Sinne des gesamten Ensembles und was die Menschen von sich aus mitbringen, wie sich evtl. die Figur verändert. Beispielsweise haben wir bei Junis, der geflüchteten Person im Film, Teile der Biografie unseres Schauspielers Ivar Wafaei übernommen. Ivar ist vor einigen Jahren aus Afghanistan nach Deutschland zu Fuß gelaufen, hat seine Familie zurücklassen müssen, hatte es nicht leicht, hier anzukommen. All das wird nicht auserzählt oder durchdekliniert und trotzdem steckt vieles von ihm in der Figur. Ivar hat zum Beispiel das Lied, was er summt, um sich zu beruhigen, selbst vorgeschlagen. Aber das muss man natürlich gut besprechen, es geht ja auch nicht darum biografische Ereignisse auszustellen oder zu „benutzen“. Das ist von Spieler*in zu Spieler*in sehr individuell.

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Wie viel Persönliches spielt mit rein?

Vieles von unserer Geschichte, unserer Kriege, schlummert noch auf verschiedenen Ebenen in und um uns herum. Es gibt in dem Film einige Figuren und Beziehungen, die an persönliche Erlebnisse angelehnt sind. Zum Beispiel hatte ich auch eine Mutter, die irgendwann nicht mehr aus dem Haus gegangen ist, die ich versucht habe, zu retten. Der Kern des Filmes, Lane, muss die Bombe ihrer Mutter quasi entschärfen, um aus dem gemeinsamen Trauma rauszukommen. Diese Geschichte ist an meine Familiengeschichte angelehnt. Schmerz wandert durch Familien, bis jemand bereit ist, ihn zu fühlen. Um als jüngstes Familienmitglied die Kriegserlebnisse meiner Familie aufzuarbeiten, habe ich Aufstellungen gemacht und in langen Gesprächen, Erinnerungen langsam aufgeblättert und Familiengeheimnisse gelüftet – und auch viel Schmerz gefühlt.

Jeder Zuschauende erlebt etwas anderes, wenn er den Film sieht und kann sich etwas anderes aus der Geschichte herausziehen und doch ist alles verzahnt…

Ich würde sogar behaupten, je nach Stimmung fühlt sich der Film anders an. Es gab Menschen, die den Film nun schon mehrfach (und gerne) gesehen haben, die bei jeder Vorführung wieder etwas Neues entdeckt haben. Was mich sehr interessiert hat, ist die Parallelität und Verdichtung ganz unterschiedlicher Ereignisse und Emotionen, die hier wie Schichten aufeinander liegen. Der Film ist überraschend und switcht auch mal in der Tonalität: Es gibt Humor, dann Drama, dann Action, dann wird es hochemotional. Während es bei den einen um Leben und Tod geht, tanzen andere, feiern den Moment, wiederum andere überlegen, ob sie ihr aktuelles Leben für immer verlassen. Die Gleichzeitigkeit dieser Parallel-Universen ist immer wieder erstaunlich – und macht unser Leben so unfassbar reich und komplex.

 

„Schmerz wandert durch Familien,
bis jemand bereit ist, ihn zu fühlen.“

 

Wie schneidet man sowas?

Ich habe gemerkt, je mehr Zeit ich am Anfang in eine Figur investiere, desto mehr denken die Zuschauenden, dass das die Hauptfigur ist und sind dann enttäuscht, wenn ich erzählerisch zur nächsten Figur weiterziehe. Wir haben versucht, nicht nur spannungsorientiert, linear-kausal, sondern momenthaft zu erzählen. Mal leise, mal laut, mal ein Tutti, mal ein Solo. Der ganze Film ist eher wie eine musikalische Komposition, eine Symphonie. Es geht um Rhythmus, Melodien, Refrains – darum, die Höhe- und Tiefpunkte der Figuren so zu strukturieren, dass sie sich nicht gegenseitig aufheben. Gleichzeitig gibt es noch die „große“ Bombe, die permanent tickt, die man auch nicht ganz aus den Augen verlieren sollte.

Die Wohnungen der Menschen erzählen Geschichten. Viktors (Karl Markovics) vollgepackte Wohnung ist vollgepackt mit den Kostümen und anderen Dingen. Sowas sammelt sich in Jahrzehnten an. Die Wohnung wird eine Art Höhle.

Absolut. Unsere Gesellschaft hat sich fragmentarisiert. Während der Corona-Zeit haben sich alle zurückgezogen – und gelernt, dass wir vor anderen Menschen Angst haben sollten. Ich habe das Gefühl, dadurch sind viele noch weiter auseinandergedriftet. Screens sind zu Kontaktpunkten mit der Außenwelt geworden. Jede Wohnung in Blindgänger hat eine ganz eigene Topografie, ist eine kleine Welt für die Figur, ihr Universum. Durch die Bombe muss allerdings ein ganzes Viertel evakuiert werden. Alle müssen aus ihren Rückzugsorten heraustreten – ob sie wollen oder nicht. Manchmal ist genau das aber auch gut, um seine gewohnten Bahnen zu verlassen, um auf andere Menschen zu treffen, neue Begegnungen und Ideen zu haben.

„Zeiten und Welten existieren gleichzeitig in uns,
um uns herum.“

Margit nutzt eine Art Alexa-Sprachsteuerung, Hanne ein Wählscheibentelefon. Alles existiert nebeneinander.

Diese Durchmischung und Überlagerung von Schichten und Zeiten war uns wichtig. Zeiten und Welten existieren gleichzeitig in uns, um uns herum. Gleichzeitig ist die Ausstattung aber auch ein Ausdruck des inneren Gefühlszustandes von Figuren, zum Beispiel ist die Ehe von Hanne und Otto schon lange stehen geblieben – und genauso sieht es bei ihnen zu Hause auch aus. Es werden in Montagen Explosionen in Afghanistan und aus dem Zweiten Weltkrieg gemischt. Margit und Junis, obwohl scheinbar so unterschiedlich in Herkunft und Alter, haben beide Bomben und die Auswirkungen von Krieg erlebt – sie haben so viel mehr gemein, als man im ersten Moment denken würde. Sie spüren, dass sie eine Angst teilen, dass sich beide verstecken – und sind dankbar, dass sie in diesem Moment der Entschärfung nicht alleine sind.

…und so finden sie menschlich zueinander. Kann Kino die Menschen ein bisschen verändern?

Also ich glaube schon. Zum einen hat dieser Film mein Leben gerettet und mir meinen Glauben daran wieder gegeben, dass man Filme anders machen kann, andere Filme machen kann, anders sein kann. Viele der Projekte, die ich zuvor gedreht habe, die ich vom Ergebnis her sehr mag, haben in der Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind, sehr viel Kampf und Druck mit sich gebracht. Bei „Blindgänger“ ging es von vornherein um den gemeinsamen Prozess. Wir hatten wenig Geld, mussten innerhalb eines engen Rahmens agieren und das Beste daraus machen. Alle die dabei waren, haben wirklich ja zu diesem Projekt, zu dieser Art zu arbeiten und zu mir gesagt. Wir haben Material gesammelt und haben uns alle am Set gegenseitig unterstützt, Mut gemacht, aufeinander aufgepasst. Darum ging es, vor und hinter der Kamera: einander zu sehen, aufeinander zu achten. Jede Woche hat sich eine andere Person geoutet und meinte: ich fühle mich hier so sicher und aufgehoben. Das spürt man auch im Endergebnis, dass alle mit ihrem ganzen Herzen dabei waren.

Weitere Informationen
„Blindgänger“ läuft seit 29. Mai 2025 im Kino. Hier geht’s zu einem anderen Teil des Interviews im nd