Katharsis durch Reizüberflutung

Miss Revolutionary Idol Berserker: Noise And Darkness. Copyright: Cyclone A

Am Eingang verteilt das Theater Regenumhänge und Ohropax. Es wird empfohlen, Schuhe mit einem guten Profil zu tragen und Kleidung, die unterhalb des Knies nass werden kann – vielleicht sogar einen Badeanzug unter der Kleidung. Es regnet japanische Kultur.

Toco Nikaidos Ziel ist es, Menschen durch Reizüberflutung glücklich zu machen, deshalb gründete die 28-jährige im Jahr 2013 die Performancegruppe „Miss Revolutionary Idol Berseker“. Bei „Tanz im August“ stellte sie „Noise and Darkness“ vor, welche auf die japanische „otaku“-Fankultur anspielt, außerdem wird das Publikum mit Tofu und Seetang beworfen. Wovon die Performance handelt, erklärt die Choreographin Toco Nikaido im Gespräch.

Frau Nikaido, letztes Jahr stellten Sie „Ms. Berserker Atttttacks!! Elektro Schock! Luv! Luv! Luv! Shout!!!!!“ vor, jetzt „Noise and Darkness“. Die Performances ähneln sich sehr. Beide Male wird das Publikum nass gespritzt und mit jeder Menge Dinge beworfen, es herrscht ein sehr buntes Treiben auf der Bühne und nun frage ich mich: Wie unterscheiden sich die beiden Performances?

Toco Nikaido: Die Grundstruktur der Show ist recht ähnlich, aber wir haben die verschiedenen Acts etwas aufpoliert und brachten die Show so auf ein andere Stufe. Diesmal habe ich die Musik selbst abgemischt. Auch haben wir die Requisiten und Kostüme auf der Bühne auf den neuesten Stand gebracht. Als ich das Stück kreierte, zog sich ein roter Faden durch das ganze Stück. Es ist nicht nur „Noise und Darkness“.

24 Performer werfen Tofu, Seetang, Glitter und Bälle in das Publikum, die Performance ist sehr hektisch und es ist laut und dunkel, nass und bunt. Das klingt sehr chaotisch…

Nikaido: Es sieht chaotisch aus, aber das ist es nicht. Die Performer sind ruhig und in sich gekehrt, alles ist durchgetaktet. Wir sind aber keine Roboter und folgen nicht nur der Taktung. Jeder auf der Bühne bringt seine eigenen Leidenschaften und sein Herzblut in die Performance mit ein. Die Art, wie sich die Performer auf der Bühne ausdrücken, entspringt ihrer eigenen Kultur. Am Ende der Show fühlt sich jeder befreit und nicht nur die Performer erfahren eine Art Katharsis, sondern auch  jeder einzelne aus dem Publikum. Meine Idee, ist, dass das Publikum, die Hauptfigur des Stückes ist. Darum lassen wir das Publikum ganz am Ende nach der Performance nicht gleich gehen, sondern bringen sie auf die Bühne und lassen Sie wissen: Ihr seid Teil der Show.

Warum sind die Performances so überladen?

Nikaido: Im Alltag prasseln in jeder Sekunde Tonnen von Informationen auf uns ein. Es ist für das menschliche Gehirn unmöglich, all das zu erfassen. Unsere Show ist eine Reflektion über diese Überflutung. Natürlich ist diese Show ziemlich „over the top“ und extrem. Es gibt so viel Information, die auf dich auf einmal einprasselt und es geht in einer Blitzsekunde vorbei. Aber auch, wenn alles in der Show verschwindet und jeder Moment so schnell entschwindet, wird das Publikum vielleicht mit einem „wow, das war verrückt“ oder einem „Wow, das war großartig“ zurückgelassen.

Was interessiert Sie an der japanischen „otaku“-Fankultur?

Nikaido: Anime, Idole und Popsongs kommen alle in der Show vor. Ich bin keine Art Fan von all dem. Ich recherchiere und studiere vielmehr die Popkultur und überlege, wie ich das für die Show nutzen kann. Außerdem kann ich ihre Form durch meine Regie verändern. Zum Beispiel – ich bin mir nicht sicher, ob sie Ihnen bekannt ist – ist Hatsune Miku ein virtuelles Idol in Japan. Weil sie virtuell ist kann man sie nicht anfassen und ihre Hand schütteln oder ein Autogramm bekommen. Jedoch ist die Synchronstimme dieses virtuellen Idols eine reale Person. Diese Person durchlebt Beziehungen und Trennungen oder Eheprobleme. Diese zwei Seiten des Virtuellen und des Realen interessieren mich sehr.

 

TOKO NIKAIDO: ICH GLAUBE, NACH DER SHOW EMPFINDEN WIR ALLE DIESE ÜBERWÄLTIGENDE GLÜCKSELIGKEIT UND FREUDE.

 

Was hat es mit der Dunkelheit in dem Stück auf sich?

Nikaido: In der Vergangenheit habe ich einige Arbeiten zu Untergrundidolen und Internetidolen gemacht. Diese Kultur der Idole, die „otaku“-Kultur, ist einzigartig. In Japan sind Popidolen Symbole von Hoffnung und Leidenschaft. Das Idol selbst mag große Liebe und Glückseligkeit für seine Arbeit empfinden, aber es gibt auch die andere Seite des Idols, in der das Idol einsam und sehr isoliert ist. Ein Idol muss viele Hindernisse überwinden, um das Zentrum auf der Bühne zu werden. Es ist eine Welt, in der ein Hund einen anderen frisst, um auf dieser Bühne zu stehen und das Zentrum der Aufmerksamkeit eines Jeden darzustellen, aber wir sind alle verschieden, wir sind „kakumei“-Idole, was bedeutet, dass wir revolutionäre Idole sind. Wir versuchen, einen neuen Weg als Popidole zu formen.

Welcher Revolutionsgedanke steckt dahinter?

Nikaido: Ich mache grundsätzlich das, was ich mache, weil ich die Leben von anderen verändern möchte. Ich möchte eine lebende Legende werden. Wenn die Arbeit, die ich mache, nicht als wahnsinnig interessant angesehen wird, macht es sie keinen Sinn. Wenn wir nicht dem Publikum diesen Schock und diesen Neustart von ursprünglichen Gefühlen geben können, dann müssen wir sterben. Ich will dieses enge moderne Verständnis von Theater über Bord werfen und so viel Essenz der japanischen Kultur in mein Werk pumpen, so dass ich diese extreme Kraft und Begeisterung vorantreiben kann. Ohne, dass dem ein politischer Glaube oder ein enges kulturelles Verständnis zu Grunde liegt. Ich hoffe, dass mein Werk zur Erleuchtung des Besuchers führt.

Warum sollte das Publikum Geld dafür zahlen, von Tofu und Seetang beworfen zu werden?

Nikaido: Meiner Meinung nach gibt es keinen, der meine Performance nicht sehen sollte. Ich weiß, dass es viele Menschen im Publikum gibt, die verschiedene Geschmäcker und Vorlieben haben, aber es schwer, zu glauben, dass es nicht irgendetwas gibt, das ihm gefällt. Ich glaube auch, dass wir es nicht schaffen, einfach alles aufzunehmen, was sich auf der Bühne abspielt, aber das ist einer der Stärken unserer Performance. Man mag nach der Performance glücklich sein oder schockiert sein. Man mag sogar sprachlos sein. Man mag denken „Oh mein Gott, Seetang klebt an mir“ oder „Was hat der Tofu in meinem Gesicht zu suchen?“. Die Show ist laut, aber die Dunkelheit ist dann da, wenn die Lichter im Theater ausgehen und du mit deinen Gedanken allein bist. Hoffentlich wird die Show ein Türöffner dafür sein, dass du über einige Menschen anders denkst und vielleicht auch über dich selbst und dass du die Welt anders siehst. Ich glaube, nach der Show empfinden wir alle diese überwältigende Glückseligkeit und Freunde.

Wird Ihre nächste Performance wieder ähnlich sein?

Nikaido: Ich habe die den Ausdruck „ohagi live“ für meinen Performancestil geprägt. Mein Traum und meine Hoffnung besteht darin, dass ich eine Art traditionelles japanisches Theater gestalte wie „kabuki“ oder „noh“. Deshalb werde ich meine Art, mich auszudrücken nicht aufgeben. Mein Ziel ist es, Teil der Weltgeschichte zu werden. Ich will die interessante Show aller Zeiten machen. Natürlich werden wir älter, aber egal, wie alt wir werden, egal, wie viel Falten wir haben werden, wir werden immer es anstreben, dem Publikum den nächsten Nervenkitzel zu vermitteln. Auf diese Art werden wir sogar die Zeit bezwingen.

 

 

Weitere Informationen

Die 28-jährige Choreographin und Performerin Toco Nikaido war bereits letztes Jahr mit „Ms. Berserker Atttttacks!! Elektro Schock! Luv! Luv! Luv! Shout!!!!!“ in Deutschland zu Gast. Die Aufführungen von „Noise and Darkness“ bei „Tanz im August“ fanden am 28 und 29. August 2014 statt.