Klare Tanzformen und koordiniertes Chaos

Klare Tanzformen und koordiniertes Chaos

Der Auftakt des Tanz im August-Festivals war ein Abend der Gegensätze. Während Lucinda Childs Ensemble in den Berliner Festspielen Tanz formalisierte, performte Elina Pirinen in „Personal Symphonic Moment“ zu Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitschs „Leningrader Sinfonie“ mit großer Entdeckungsfreude. 

1983 entwickelte Lucinda Childs in Zusammenarbeit mit dem Architekten Frank O. Gehry und dem Komponisten John Adams „Available Light“. Sie arbeitete ausschließlich mit Tageslicht, mit Stillstand und wechselnden Tanzmustern. Sie durchbrach das Fließende im Tanz. John Adams flirrende, fremd anmutende Klänge forderten das Publikum heraus. Ihr Ensemble trug kein Balletröcken, sondern schwarze, weiße und rote geometrische Anzüge. An den Armen und Beinen verengte sich der weite Stoff. Stehend wirkten sie fast wie Kegel. 2015 ist die Kleidung zweckmäßiger. Die vier Tänzer tragen einfarbigen Stoff auf farblich abgestimmten Unterhosen, die sieben Tänzerinnen angedeutete Kleidchen oder eine Art Bikini.  Statt mit der Sonne arbeitet Childs mit rotem Scheinwerferlicht und gleißender Weiße. Sie selbst steht mit 75 Jahren nicht mehr auf der Bühne.

Extrem formalisierter Tanz

In den Physical Introductions – einem Format, um sich mit dem Werk des Künstlers – tänzerisch auseinanderzusetzen, teilt Ty Boomershine, selbst Teil des Ensembles, die Teilnehmer in zehn Gruppen ein. Jede Gruppe hat ihren eigenen Bewegungsmoment.  Manche Gruppen bewegen sich gleichzeitig. Nach vorne, zurück, nach links oder rechts. Wer unsicher ist,  bleibt stehen. Eine falsche Schrittfolge würde das Stück gefährden. Die Perfektion wirkt fast museal. Wie ein sich ständig veränderndes Ausstellungsstück. Die Assoziation kommt nicht von ungefähr. Die Uraufführung von „Available Light“ fand in einer Lagerhalle zur Eröffnung einer Ausstellung im Museum of Contemporary Art in Los Angeles statt.

 

Lucinda Childs. Available Light. Physical Introduction. Eine Gruppe ist eine vertikale Spalte, die blauen Kreise zeigen die Tanzschritte des ersten Durchlaufs. Im zweiten werden die grünen Kreise hinzugefügt. Copyright: Susanne Gietl
Lucinda Childs. Available Light. Physical Introduction. Eine Gruppe ist eine vertikale Spalte, die blauen Kreise zeigen die Tanzschritte des ersten Durchlaufs. Im zweiten werden die grünen Kreise hinzugefügt. Copyright: Susanne Gietl

Die Finnin geht einen den gegensätzlichen Weg. Sie setzt auf Klassik. Schostakowitschs „Leningrader Sinfonie“ spielt sie in seiner ganzen Länge. All der Dramatik, dem militärisch anmutenden gibt sie Raum. Richtet den Blick auf schwarze Leere. Man starrt in ein Nichts Dann auf die leere Bühne. Die Musik entfaltet ihre eigene Dramaturgie. Nebel zieht auf. Drei Frauen ganz in gelb, zartgrün oder einem dezenten rosa gekleidet, nähern sich Schritt für Schritt der Mitte der Bühne. Entleeren mit starrem Blick einen Farbbeutel über ihrem Kopf. In dem Moment finden die Bläser im Orchester ihren Höhepunkt. Die drei Frauen kämmen mit den Händen ihre Haare nach vorne. Das Gesicht ist nicht mehr sichtbar. Sie tanzen. Jede für sich. Pirinens „Personal Symphonic Moment“ stiftet Chaos auf der Bühne und im Geist. Immer wieder greifen die Performerinnen in den dunklen Vorhang am Bühnenrand und greifen nach den unterschiedlichsten Gegenständen. Kunstblumen, ein Spielzeugauto oder ein Kugelgrill voller Marshmallows. Eines davon steckt sich eine der Frauen in den Po. Später wird Rauch in dieselbe Öffnung geblasen. Frühlingserwachen auf der Bühne.

 

Elina Pirinen. Oersonal Symphonic Moment. Copyright: Timo Wright.
Elina Pirinen. Oersonal Symphonic Moment. Copyright: Timo Wright.

Die Seltsamkeiten wirken oft befreiend. Doch wenn eine der Frauen ihren Kopf in eine Wanne voller Eiswürfel presst, dann wirkt das zeitweise sehr brutal. Eine Gewalt, die sich gegen sich oder andere richtet ist spürbar, verliert sich wieder im Raum. Die Frauen gruppieren sich immer wieder neu zu zweit oder zu dritt.

In einem Moment ordnen sie sich in einer Linie und jede beginnt, von ihrem Leid zu singen. Über den Freund, der sie verlassen hat, über Nieztsche und das Nichts und über die die Schwierigkeit zu schreiben. Diese konkreten Erzählungen wirken nach all den Spielereien auf der Bühne befremdlich. Später ordnen sich die Frauen im hinteren Bühnenraum wieder horizontal an und lachen laut, fratzenhaft. Dann verlieren sie sich wieder in weiteren Nichtigkeiten. Am Ende ist die Bühne leer. Nur der Schmutz lässt ahnen, welches Chaos eben auf der Bühne passierte. Die Frauen verschwinden im blauen Lichterspiel. Die Aufführung verliert sich im Nichts. So wie sie begann. Die Dramatik der Musik bleibt.

Tanz im August läuft noch bis 4. September. „Available Light“ und „Personal Symphonic Moment“ eröffneten am 13. August das Festival.