Menschliche Tuschezeichnungen

Menschliche Tuschezeichnungen

Zärtlichkeit. Gewalt. Grenzüberschreitung. Das Tanzstück „Soft virtuosity, still humid, on the edge“ verwandelt spastische Bewegungen in Tanz und „Henri Michaux: Mouvements“ übersetzt Schriftzeichen in Bewegung. Compagnie Marie Chouinard bewegt, erstaunt, fasziniert. 

Es hört sich an, als würden Marie Chouinards Tänzer auf einem Kiesbett über die Bühne eilen. Anmutig sind nur die weißen Bahnen, welche die Bühne links und rechts zieren. Der Rücken ist gekrümmt, der Kopf schief, die Beine zu sehr durchgestreckt. Ein weibliches Paar setzt sich an den vorderen Rand der Fläche auf eine Drehscheibe.  Sie blicken sich direkt in die Augen, die Beine verschränken sich jeweils hinter dem Rücken der anderen. Die übergroße Leinwand zeigt ihren intimen Moment in Großaufnahme.  Ihr fremdes synchrones Grinsen verstört. Währenddessen drehen sie sich. Schneller immer schneller. Wie im Rausch. Das Grinsen wird zur Grimasse. Fühlt sich wieder fremd an. Sind sie „normal“ oder auch – wie ihre humpelnden Bühnenvorgänger körperlich eingeschränkt? Würde es wirklich einen Unterschied machen?

Die Anspannung der Tänzer ist bis in die Fingerspitzen spürbar. Die Projektion erzeugt einen ganz eigenen Film. Wenn zum Beispiel die Tänzer einfach nur in ungewohnter Manier – mit teils spastischen Bewegungen oder den Fuß hinterherschleifend – von links nach rechts laufen zeigt der „Film“ viele unterschiedliche Menschen, die auf den Zuschauer zulaufen. Ihm in die Augen sehen. Einige von ihnen wirken gewöhnlich. Jeder ist anders. Wieder die Frage, warum wir andersartige Menschen immer wieder ausgrenzen.

Später, in einem Solo, macht eine Frau Fitness-Posen. Sie trägt nur ein Höschen und einen BH. Wieder dieser Fratzenmoment. Der, in dem über Inklusion nachgedacht wird.  Jedes der Mitglieder präsentiert sich mit all seinen Ungewöhnlichkeiten. Jeder ist stolz auf sich und seinen Körper.  Manchmal jedoch ist da dieser Moment der Angst. Ein zu grober Griff des Halses des anderen. Eine zu übertriebene Grimasse. Dann grenzt der Kopf wieder aus und der Bauch fühlt Gefahr. Compagnie Marie Chouinard tanzt Kritik an Andersartigkeiten andersartig.

Pause. Manche der Besucher sprechen von einem Kulturschock, obwohl Chouinard nur aus Montréal anreiste. Das zweite Stück stimmt sie – vermutlich – milder.

Eben noch glaubte man ihre Behinderung zu sehen, jetzt interpretiert Chouinards Ensemble Henri Michaux „Mouvements“. Ein 32-seitiges Werk aus Tuschezeichnungen, die Mensch oder Tier sein könnten. Um das Tanzstück mit ein paar Pinselstrichen zu beschreiben:

CompanieMarieChouinard_2_Mouvements_TanzimAugust_copyright_SusanneGietl
Meine Zeichnungen während der Aufführung. Compagnie Marie Chouinard. Henri Michaux „Mouvements“. Copyright: Susanne Gietl

 

 

 

 

 

Anfangs geht es Basston auf Basston. Schnell wird das jeweilige Schriftzeichen springend, schwingend oder streckend nachgestellt. Das T-Shirt wird gedehnt, der Kopf hin und her geworfen. Die Leinwand zeigt links und rechts die zu tanzenden Zeichen und die bereits beschriebenen Buchseiten. Es geht schnell.

Compagnie Marie Chouinard. Henri Michaux "Mouvements". Tänzerin: Carol Prieur. Copyright: Marie Chouinard
Compagnie Marie Chouinard. Henri Michaux „Mouvements“. Tänzerin: Carol Prieur. Copyright: Marie Chouinard

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mal allein, mal zu zweit stellen die Tänzer und Tänzerinnen Schriftzeichen dar. Die Geschwindigkeit verändert sich, der Bühnenraum wird immer wieder anders wahrgenommen, dann legt sich eine der Tänzerinnen unter ein Stück Linoleumteppich. Sie zitiert Michaux französischen Originaltext, während andere Tänzer weiterhin die Schriften körperlich verbildlichen. Ihre Stimme verändert sich, bricht fast ab. Sie steht auf. Spricht weiter. Tanzt wieder die Schriftzeichen. Dann verstummt sie. Tanzt weitere Schriftzeichen. Das letzte Wort hat der Autor. Diesmal auf englisch. Als er die Figuren erdachte, trennte sich sein Kopf von seinem Körper. Sein Körper war besessen von Bewegungen. Berauscht. Berauschend.

Compagnie Marie Chouinard feierte am 19. August seine Europapremiere. Heute ist die Compagnie erneut bei Tanz im August zu sehen.