Wenn der Hund den Schauspieler an die Wand spielt, dann läuft etwas grundlegend falsch. Wenn aber der Schauspieler einen toten Hund spielt, dann läuft etwas grundlegend schief. Angélica Liddell eröffnet das diesjährige Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) mit einem überladenem Theaterstück über eine Sicherheitsgesellschaft ohne Migranten und mit einer Philosophie aus dem 18. Jahrhundert.
Gänsehautmomente, Axt und Hund
Jean-Jacques Rousseau spricht in seinem „Gesellschaftsvertrag“ über das Konzept des Feindes. Der Feind verliert darin all seine Rechte als Bürger. „Angst ist inkompartibel mit dem Staat, mit der Sicherheit“ ruft einer der Schauspieler, „Demokratie und Krieg ist das, was uns stark gemacht hat“, ein anderer. Aussagen, die Gänsemomente hervorrufen könnten. Wohlgemerkt: könnten. Doch Liddell wählt – passend zu der Axt des Schauspielers, der den toten Hund spielt (Damir Avdic) – die Holzhammermethode. Sie bebildert die Ruhelosigkeit der fünf Hauptcharaktere durch ruhelose Bilder wie Läufer, die ständig ein Grasareal umrunden oder Menschen, die es auf unterschiedliche Weise schüttelt.
Nicht nur der Hund stinkt
Nur mit Mühe ist die Ursprungsgeschichte ihres Stückes „Der tote Hund in der chemischen Reinigung: die Starken“ in Bruchstücken erkennbar. Vier Seelen am Rande der Gesellschaft treffen in einer chemischen Reinigung aufeinander: Octavio (Ulrich Hoppe), der Besitzer der Reinigung, der einen Hund erschlagen hat, seine geliebte Schwester Getsemani (Iris Becher), die ihren Körper Abend für Abend verkauft, eine pädophile Lehrerin (Veronika Bachfischer), die unter dem Borderlinesyndrom leidet, der ehemalige Museumswärter Lazar (Lukas Turtur), der unter Panikattacken leidet und Combeferre (Renato Schuch), der gemeinsam mit dem toten Hund die Philosophen Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot zitiert. Im Laufe des Stückes merkt man, dass der tote Hund nicht nur in der Wäscherei liegt, sondern die ganze Gesellschaft stinkt.
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Der Hund darf das
Avdic alias „der tote Hund“ regt sich immer wieder in seinen Schauspielsoli darüber auf, wie unglaublich schrecklich es ist, „als Scheißschauspieler einen Scheißhund“ zu spielen. Er hält eine Axt in der Hand, einmal zieht er sogar blank, da philosophiert er über den allabendlichen Nachttopf. Das Licht im Publikum geht an, er beleidigt das Publikum als „Scheinheilige“ und macht sie zum „Scheißschauspieler des Scheißschauspielers.“ Er fordert sie auf, den Saal zu verlassen – bevor sie es sonst während des Stückes tun.
Ein staatskranker Charakter
Nach einer ungefähr 15-minütigen Unterbrechung wird Liddell mit einem Mädchen in Betonschuhen, einer Lehrstunde über „Europa“ von einer Muslimin (Susana AbdulMajid) und einer Frau in verstaubtem Kleid aufwarten. Ist sie das mühsam zusammengestückelte Europa, in dem sich unsere Gesellschaft nun befindet oder noch ein weiterer staatskranker Charakter?
Würde man Angélica Liddell fragen, wie all das Theater zusammenhängt, würde sie antworten: „Ich verstehe das Theater nicht als Theater, sondern als poetischen Akt“. Doch sie genießt nur schweigend den Applaus, der ohne Buh-Rufe auskommt.
Weitere Informationen
Angélica Liddell eröffnete mit „Der tote Hund in der chemischen Reinigung: die Starken“ das FIND-Festival in einer deutschen Fassung. Sie bediente sich der Schauspieler der Schaubühne. Das FIND findet von 30. März bis 9. April 2017 unter dem Motto „Demokratie und Tragödie“ in der Berliner Schaubühne statt.