FIND 2022: Lepages Gedächtnispalast

Bühnenapplaus Robert Lepagge "887". Copyright Susanne Gietl/Kulturschoxx
Robert Lepage steht vor dem Haus seiner Kindheit. "887 Murray Avenue". Copyright: Susanne Gietl/Kulturschoxx

Jedes Gehirn ist einzigartig und wahrscheinlich hat sich jeder einmal gewünscht, in die eine oder andere Gedankenwelt einzutauchen. Robert Lepage, den das diesjährige FIND-Festival als Schwerpunktkünstler wählte, gewährt dem Publikum in „887“ Einblicke in seinen Gedächtnispalast. Lepage kreiert Event-Theater, das zugleich witzig, lehrreich und faszinierend ist.

Lepage bricht die vierte Wand auf

Der kanadische Künstler beginnt das Stück in der hellerleuchteten Schaubühne. Dass sein Vorwort bereits Teil des Stückes ist, erfährt man erst im Nachhinein. 2010 sei er eingeladen worden, zum 40-jährigen Bestehen der „Nuit de la Poesie“ (Nacht der Poesie) das Gedicht „Speak White“ von Michèle Lalonde vorzutragen. Doch so sehr er sich bemüht, er kann sich den Dreiseiter nicht merken.

Heutzutage verlasse man sich viel zu sehr auf das eigene Smartphone, in das alles gespeichert werde, merkt er an. Selbst seine eigene Telefonnummer kenne er nicht mehr und fügt hinzu: „aber meine allererste aus meiner Kindheit.“ Er spricht von der Adresse, die dem Stück seinen Namen gab: „887 Murray Avenue“. Lepage steht neben einem übergroßen Hochhaus und stellt die Bewohner seines Häuserblocks vor.

Kleine Anekdoten in großem Kontext

Wohnung für Wohnung erzählt er kleine Geschichten, während hinter den Fenstern kleine Videos die Bewohner* zeigen. Der Nachbarsjunge beispielsweise übt gerade seine Elvisimitation. Seine Geburt war öffentlich, da „verspürte er zum ersten Mal den Drang, ins Showgeschäft einzusteigen,“ erklärt Lepage augenzwinkernd.

Doch Lepage beschränkt sich nicht auf liebenswerte Anekdoten, sondern geht bald zur Geschichte Québecs über. „Links und rechts sind gleich viele Parteien“. Das sei auch politisch so. Auch die Adresse Murray Avenue bringt Lepage in den Kontext und stellt den Gouverneur der Provinz von Québec, James Murray, in den Fokus.

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Faszinierende Inszenierungsideen

Lepage, der viel mit Miniaturmodellen arbeitet, filmt die Püppchen teilweise mit eigenem Smartphone und kreiert damit neue Bilder. Selbst die Tasche seines Jackets verwandelt sich in eine Rednerpult. Denn die Rednerpuppe steckte hinter dem Taschentuch, das Lepage zuvor runterklappte.

Das Bühnenbild ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Und Lepages Inszenierungsideen erstaunen immer wieder aus Neue. Öffnet man das Modell des Hochhauses offenbart sich dort eine Küche, aus einer Bibliothek zaubert Lepage die Zimmer seiner Wohnung und aus einem Postpaket ein kleines Familienuniversum.

Ein Kunstwerk, das staunen lässt

Der Vortrag, den Lepage halten wird, dient Lepage bis zum Schluss als roter Faden. Er macht auch einen Ausflug in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Natürlich verwebt er diese Bilder mit zuvor Gesehenem. Allerdings könnte man hinterfragen, warum Lepage den Ehrgeiz hat, so viele Geschichten gleichzeitig zu erzählen.

Nicht aber, wird man in Frage stellen, wie er es tut. Denn es ergibt sich ein Kunstwerk, das jeden Erwachsenen mit großen Mündern und Augen staunen lässt. Wie ein Kind, das Lepage einst war.

Weitere Informationen

„887“ wurde erstmals in Berlin am 9. April im Rahmen des FIND-Festivals gezeigt. Das Stück kreierte Lepage 2015. Von Ex Machina / Robert Lepage
Text, Ausstattung und Regie: Robert Lepage. Außerdem zeigte das FIND eine Neuauflage von Lepages „The Seven Streams of the River Ota“

Weitere FIND-Kritiken: Sarah Kohm: „Erinnerung eines Mädchens“, Marcus Lindeen „L`Aventure invisible“