Schon vor der #MeToo-Bewegung veröffentlichte Annie Ernaux ihr autobiographisches Werk „Erinnerung eines Mädchens“. Darin macht ein fast 18-jähriges Mädchen 1958 im Ferienlager erste gewaltvolle Erfahrungen mit Männern. Im Rahmen des FIND bringt Sarah Kohm Ernaux` Roman mit Veronika Bachfischer auf die Bühne.
Verloren im Begehren des anderen
„Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer“, beginnt Bachfischer. „Von ihrer Art zu sprechen. Die Beine übereinander zu schlagen. Eine Zigarette anzuzünden. Die gebannt sind von ihrer Präsenz. Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen von dem Begehren und Willen eines anderen. Eines einzelnen,“ sie sitzt auf einem Picknicknicktisch.
„Was sie zu sein glauben, verschwindet,“ fährt sie fort. „Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln. Gehorchen, erfasst vom unbekannten Lauf der Dinge. Keine Einwilligung, keine Unterwerfung, nein nur die unfassbare Wirklichkeit die einen denken lässt: „Was geschieht mir gerade? oder: Das geschieht gerade mir. Bloß gibt es dann kein Ich mehr.“
Bachfischer macht Ernaux‘ starken Text erlebbar
Ernaux sagte in einem Interview mit ihrem Verlag, dass sie im Nachhinein froh sei, dass sie ihr Werk vor der #Mee-Too-Bewegung geschrieben habe. Dadurch sei sie frei in ihren Gedanken gewesen und allein. Bachfischer macht den starken Text erlebbar. Wenn sie in den Spiegel schaut, der auf der Bühne aufgebaut ist, sich ihre Haare richtet, glücklich Pudding in sich hineinschaufelt. „Ich habe mit dem Chefbetreuer geschlafen!“, wiederholt sie ständig.
Man hört den Übermut in ihrer Stimme. Dass er ihre Aufregung, ihre Neugier missbraucht hatte, um sie zu sexuellen Handlungen zu zwingen verdrängt sie. Es wird sie einholen. „Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere,“ schrieb Erneaux mit 76 Jahren. Erst in der Rückschau wird sie sich der Brutalitäten und des Spotts der anderen bewusst. Ihre Periode bleibt aus, weil sie eine Essstörung entwickelt. Den Hunger unterdrückt sie. Sie quält ihren Körper.
Zeitlose Geschichte einer Frau
Das zeitlose Bühnenbild unterstreicht Kohms Intention, den Text für alle lesbar zu machen. Eine Spiegelwand dient zugleich als Zimmer, Umkleide und Schandwand. Der Mann tritt nicht auf, stattdessen hängt seine Lederjacke im Raum. Ein Rock, eine Bürste, eine Perücke und das Foto von Annie Erneaux hängen an der Spiegelwand.
Bachfischer erzählt Erlebnisse vom „Gesetz wilder Männlichkeit“, Begehren, Selbstkasteiung. Wie Erneaux an ihrem Aussehen zweifelte. Wie auch sie immer wieder mit ihrem Aussehen konfrontiert wurde. Bachfischer spricht über ihre Rolle als Schauspielerin, die immer wieder Sexismus begegnet. Im Laufe des Stückes wird sie immer wieder erschreckende Beispiele geben, die sich mühelos in den Text einfügen. Wenn Bachfischer die Bühne betritt, betritt sie die Bühne auch immer als Frau. Die individuelle Geschichte von Erneaux wird zum Exempel. „Sie ist ich und ich bin sie,“ sind Bachfischers letzte Worte.
Weitere Informationen
„Erinnerung eines Mädchens“ feierte auf dem FIND 2022 am 9. April seine Premiere. Regie: Sarah Kohm. Mit Veronika Bachfischer. Bühne und Kostüme: Lena Marie Emrich. Musik: Leonardo Mockridge. Dramaturgie: Elisa Leroy. Licht: Rudolf Heckrodt.
Weitere FIND-Kritiken: Marcus Lindeen: „L`Aventure invisible“, Robert Lepage: „887“