Mit „One Song“ kreiert Miet Warlop im Hebbel am Ufer eine intelligente Parabel auf unsere Leistungsgesellschaft.
Manchmal fühlt sich das Leben an wie ein Wettlauf. Man rennt und rennt und rennt und doch hat man das Gefühl, auf der Stelle zu stehen. Es ist fast so, als würde ein immerwährender Song von uns erwarten, dass wir immer höher springen und immer schneller und weiter laufen, während die Uhr (in diesem Fall das Metrum) unerbittlich tickt und uns antreibt. Diesen (Rock-)Song des Lebens bringt Warlop in einer Mischung aus Sportperformance und Konzert auf die Bühne und erinnert an das Requiem „Sportband/Afgetrainde Klanken“ (2005), das sie in Gedenken an ihren verstorbenen Bruder Jasper schrieb. Er hatte damals den Freitod gewählt.
Ein Stück über Vergangenheit, Hoffnung und Rastlosigkeit
Warlop, die nach Milo Rau, Angelica Lidell und Faustin Linyekula der Einladung des Niederländischen Theaters Gent (NT Gent) folgte, ihre Geschichte als Theatermacher*in (Histoire du Théâtre IV) auf der Bühne umzusetzen, bringt in „One Song“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Sie greift das Sportkonzert-Konzept von 2005 wieder auf, entwickelt aber gleichzeitig ein Stück über Zusammenhalt und Hoffnung.
Jeroen Olyslaegers, ein guter Freund ihres Bruders, schrieb die Texte für „One Song“. Nach dem Tod ihres Bruders fand er, so erklärt Warlop in einem Interview, sehr bewegende Worte, doch Warlop hatte bis zu diesem Auftrag keinen Kontakt mehr zu ihm. Mit vielen aus dem Team arbeitet Warlop schon lang zusammen. Zum Beispiel mit den Geschwisters Wietse Tanghe, der auf dem Laufband singend performt und seinem Bruder Joppe (als Fan) sowie ihrer Mutter. Karin Tanghe macht mit Megaphon die Sportansagen, kommentiert, bewertet und treibt die Gruppe an.
Die Performer* spielen um ihr Leben
Das Setting ist schlau gewählt. In einer Art Sportarena mit Laufbahn, Sprossenwand, Weichbodenmatten, Trampolin und Schwebebarren rennen und spielen die fünf Performer* um ihr Leben. Fünf Fans auf der Tribüne feuern die Sportler* an, die alle bis an ihr Äußerstes gehen.
Elisabeth Klinck balanciert auf dem Schwebebalken, während sie auf der Geige spielt. Fällt sie herunter, hilft ihr Willem Lenaerts, der für jeden Ton auf seinem Keyboard hoch springen muss, wieder auf den Schwebebalken. Auch der Cellist (Simon Beeckaert) ist rastlos. Er muss für jeden Ton Sit Ups machen, denn er spielt liegend. Mit großer Wucht drischt Melvin Slabbinck auf sein Schlagzeug, das im ganzen Raum verteilt ist, während Wietse Tanghe im wahrsten Sinne laufend in sein Mikro schreit, Elisabeth Klinck fiedelt eine melancholische Melodie so kraftvoll, dass sich einzelne Seiten ihres Bogens lösen und Willem Lenaerts bedient neben dem Keyboard sprigend die Basedrum auf der Stelle rennend so schnell, dass einem schon beim Zuschauen die Puste ausgeht.
Ein rastloses, intelligentes Spiel
Durch das schlaue Setting, geschickten Tempowechsel, so manchen skurrilen Einfall und das eindringliche Spiel verliert der Loop nie seine Wucht. Rastlos verfolgt man als Publikum selbst die leisen Töne. Schon längst hat sich der Song eingebrannt. Was Anfang noch unterhaltsam war, entpuppt sich als bitterer Ernst. Das Team trotz allen Widrigkeiten und hilft sich gegenseitig. Wer auf der Strecke bleibt, der wird von eine/m der anderen Performer* ersetzt, denn das Spiel muss weitergehen.
Dass selbst der Cheerleader (Milan Schudel) stets in tänzelnder Position, sich überfordert, muss an dieser Stelle wahrscheinlich nicht mehr erwähnt werden. Auch nicht, dass alle irgendwann zusammenbrechen werden und wieder aufstehen werden. Miet Warlops „One Song“ ist mitunter das traurigste Rockkonzert, das auf einem Song begründet ist.
Weitere Informationen
Miet Warlops / NT Gent: „One Song – Histoire(s) du Théâtre IV“ läuft bis 29. Oktober 2022 im Hebbel am Ufer (HAU). „One Song“ wurde vom HAU mitproduziert.
Mit: Simon Beeckaert, Elisabeth Klinck, Willem Lenaerts, Milan Schudel, Melvin Slabbinck, Joppe Tanghe, Karin Tanghe, Wietse Tanghe, Imran Alam, Stanislas Bruynseels, Judith Engelen, Flora Van Canneyt / Konzept und Regie: Miet Warlop / Text: Miet Warlop advised by Jeroen Olyslaegers / Dramaturgie: Giacomo Bisordi / Musik: Maarten Van Cauwenberghe / Kostümdesign: Carol Piron – Filles à Papa / Lichtdesign: Dennis Diels / Tontechnik: Bart Van Hoydonck, Raf Willems / Lichttechnik: Laurent Ysebaert