Was würden wir tun, wenn es keine Natur mehr gäbe? fragte die Choreographin Mette Ingvartsen in „The Artificial Nature Project“ vor elf Jahren. Ingvartsen gab der Natur eine eigene Stimme. Auch in „Moving in Concert“ performt die Natur mit und zeichnet zur Eröffnung der Potsdamer Tanztage ein düsteres, aber auch poetisches Bild aus Kies, Licht und nackten Körpern.
Nackt im dunklen Raum
Auf einer leeren Bühne fließt aus einem riesigen schwarzem Rohr dunkler Kies. Es ist ein lautes, fast schrilles Geräusch. Acht weiße Neonröhren liegen verteilt auf der Bühne. Insgesamt neun Männer und Frauen betreten die Bühne über den Publikumsraum. Sie murmeln etwas Unverständliches und tragen weiße Turnschuhe, ansonsten sind sie nackt. Jede/r von ihnen ergreift im dunklen Raum eine Neonröhre, einer einen knorrigen, toten Ast.
„Moving in Concert“ ist eine Performance über das Verhalten von warmen, nackten Körpern zu kalter, lebloser Technologie. Durch das Verhältnis zu ihr, so Ingvarsten, verändern sich auch unsere mentalen Strukturen, unsere Laune und unser Körpergefühl. Die Performance gibt Technologie eine flirrend-laute, allgegenwärtige Stimme, auf welche die Menschen reagieren.
Neuroplastizität als Mittel der Anpassung
Wie also verändert dieses Zusammenleben mit Technologie den Menschen? Philosoph William James, der im Programmheft auch zitiert wird, spricht von Neuroplastizität, wenn sich neuronale Verknüpfungen neu bilden:
„Plastizität bedeutet im weitesten Sinne des Wortes, dass eine Struktur schwach genug ist, um einem Einfluss nachzugeben, aber auch stark genug, um nicht auf einmal nachzugeben. Die organische Materie, insbesondere das Nervengewebe, scheint mit einem ganz außergewöhnlichem Maß an Plastizität dieser Art ausgestattet zu sein.“
Dystopisches Bild mit sozialen Formationen
Mette Ingvarsten, die schon öfter mit nackten Körpern arbeitete, kreiert Bilder mit Hilfe von sozialen Formationen, die umgeben von Technologie sind. In immer neuen Kombinationen finden sich die von Menschen gehaltenen Neonröhren zusammen. Sie formen in langsamen Bewegungen eine Art Kreis, bewegen sich wie eine lebendige Walze nach vorne, formen zwei ineinander verschränkte Vierecke. Immer mit dem Ziel, der Form gerecht zu werden und sich ihr zu beugen. Wie ein Baum, der sich seinen Weg in der Natur bahnt. Dann drehen sie sich minutenlang, ihre Neonröhren und den einen Ast, auf Hüfthöhe haltend, allein im Kreis. Mit jeder Drehung hört man das hochtönige Surren der Neonröhre, als würde sie den Rhythmus vorgeben.
Mette Ingvartsens „Moving in Concert“ ist ein Spiel der Gegensätze: Licht und Schatten, Wärme und Kälte, Technik und Natur. Ingvarsten gelingt ein philosophisches Stück allein mit der Sprache der Körper, Licht und Materie.
Weitere Informationen
Mette Ingvartsens „Moving in Concert“ feierte am 30. März 2023 im Hans Otto Theater bei den Potsdamer Tanztagen seine Deutschlandpremiere. Die Performerinnen und Performer waren nackt und trugen weiße Turnschuhe, bei anderen Performances von „Moving in Concert“ trugen sie auch mal einen roten Körperanzug. Concept & Choreographie, Setdesign: Mette Ingvartsen. Performer: Bruno Freire, Elias Girod, Gemma Higginbotham, Dolores Hulan, Jacob Ingram-Dodd, Anni Koskinen, Calixto Neto, Norbert Pape, Manon Santkin. Ersatzbesetzung: Hanna Hedman, Armin Hokmi, Thomas Bîrzan. Sound design: Peter Lenaerts. Lichtdesign, Setdesign: Minna Tiikkainen. Kostümdesign: Jennifer Defays
Die Potsdamer Tanztage laufen bis 11. Juni auf dem Gelände von der fabrik Potsdam.