Sein oder…? Schon wieder Hamlet? Beim Theatertreffen dekonstruiert das Anhaltische Theater Dessau Shakespeares Klassiker auf grandiose Art und Weise.
Bei „Hamlet“ ist nicht nur die Zeit aus den Fugen, auch die Menschen. Losgelöst von Zeit und Raum spielen sie Hamlet in einem dialogischen Vakuum an einem über 30 Meter langen Tisch. Die Bühne wirkt auch durch Spiegelungen schier unendlich, Sätze wiederholen sich und werden weitergegeben und auch der Abend verliert sich in sich selbst.
Zwei Hamlets verschwinden in der Übermacht
Claudius (Stephan Korves) blickt wie eine Übermacht von einer riesigen Projektionsfläche auf das Theaterpublikum, ihm zu Füßen sitzen zwei symbiotische Hamlets (Niklas Herzberg, Felix Axel Preißler) an einer noch kurzen Tafel. „Es ist nicht und wird niemals gut.“ Hamlets Vater ist kaum unter der Erde, schon heiratet Hamlets Onkel Gertrud. Die Leiche dient als Hochzeitsschmaus. Soweit so gut so bekannt. Die Genialität liegt in der Auslassung.
„Mehr Inhalt, weniger Rhetorik“
Regisseur Philipp Reuss entscheidet sich, das Stück nicht textgetreu umzusetzen. Er greift Textfetzen heraus, die in ihrer Stärke dem wuchtigen Bühnenbild entsprechen. In zunächst schwarz-weißen Livevideos entsteht ein Bild einer ekelhaft-puppenhaften, glitzernden Gesellschaft in Dauerschleife. Hamlet wird aus Verzweiflung zum Theatermacher, im Stück wird gemahnt: „Mehr Inhalt, weniger Rhetorik!“
„Hamlet“ ist ein lautes, forderndes Stück, das Überforderung nicht negiert. Es sollen schon einige genervt den Raum verlassen haben. Das Bühnenbild ist wandelbar. Die Festtafel ist Tanzfläche, Totenbahre, Theaterbühne. Sie ist mal länger, mal kürzer. Mal durch einen Vorhang getrennt, mal durch eine Leinwand. Allein szenisch passiert viel.
Was den Hamlet-Text ausmacht, arbeitet das Team vom Anhaltischen Theater Dessau klar heraus: Die Erinnerung an das Grausame wird zum Gespenst, der Verstand zum Gefängnis und Hamlet? Der wird in einer Gesellschaft, die sich selbst nicht in Frage stellt, wahnsinn-ich und im Schlund des Wahnsinns ist die Zeit und das Unheil relativ.
Weitere Informationen
Beim Theatertreffen werden jedes Jahr die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen gezeigt. Einige sind in der 3Sat-Mediathek abrufbar. Hamlet wurde am 28. und 29. Mai im Haus der Berliner Festspiele aufgeführt. Zum Publikumsgespräch zu „Hamlet“
Anhaltisches Theater Dessau, Hamlet – Tragödie von William Shakespeare, Fassung von Philipp Preuss unter Verwendung der Übersetzung von Marius von Mayenburg, Regie: Philipp Preuss, Premiere 25. März 2022.