Daina Ashbee weint nackt mit Hunden, Frédérick Gravel dreht sich auf biertrunkenem Boden und Byström Källblads Performerinnen galoppieren als Pferdchen durch die Stadt. Ist das noch Tanz oder nur Selbsttherapie?
Fluide Grenzen des Tanzes
2015 führte ich ein Gespräch mit Anna Mülter, damals die neue Kuratorin der „Tanztage Berlin“, über den Tanzbegriff. „Alles, was mit Körper im Raum umgeht, kann Tanz sein,“ erklärte sie mir. „Es kommt darauf an, welches Denken dahintersteckt und aus was es sich motiviert.“ Auch Byström Källblad berufen sich auf den erweiterten Tanzbegriff. Ihre Performance „City Horses“ prangert an, dass Berlins Stadtbild männlich geprägt sei. Die breiten Straßen, Bronzestatuen von stolzen Reitern und die nackten, oft passiv gezeichneten Frauen seien ein Zeugnis dessen.
Die Performerinnen entdecken ihre (Bewegungs-)Freiheit als stolze Wildpferde und galoppieren vom Schlüterhof aus durch Berlin. Sie schnauben männliche Reiterstatuen an, traben um den Neptunbrunnen und knien hinter dem Gendarmenmarkt im tiefen Gras nieder. Im Interview erzählten Byström Källblad, dass die Performerinnen ihre eigene Kraft wieder stärker spürten. Von der Ermächtigung spürt der Zuschauer* wenig, denn die Botschaft ist schnell erzählt, vergeblich wartet man auf eine Weiterentwicklung der Performance.
Selbsttherapie mit Bierpirouetten
Eine andere Form von Selbsttherapie wählt Frédérick Gravel in „Fear & Greed“ (Angst und Gier). Mit einer Rockperformance in den Sophiensaelen verarbeitet er seine persönlichen Probleme mit „Kapitalismus, dem Patriarchat und warum Kunst uns nicht retten kann.“ Auf Knien drehend sucht er sich auf der Bühne sein Equipment zusammen: Eine Gitarre, ein Plektron, den Verstärker, das Mikrophon. Er bewegt sich unökonomisch langsam um seine eigene Achse und zelebriert jede Bewegung als solche, was eine gewisse Komik und Kapitalismusverweigerung in sich birgt.
Ein therapeutisches Zwiegespräch mit sich selbst
Gravel wechselt im Laufe der Performance von romantischem Gitarrensolo und klassischer Musik hin zu brachialer Gitarrenmusik, geschickt verwebt er Ballett, Flamenco und Hip Hop in seinen taumelnden, teils virtuosen Bewegungen. Dazwischen begibt er sich, auf einem Bierkasten sitzend, in ein therapeutisches Zwiegespräch mit sich selbst und wird zum Rockphilosoph. All das funktioniert erstaunlich gut.
„Wenn Sie die Hälfte Ihrer Angst nehmen und dann an jemand anderen abgeben, dann haben Sie selbst weniger zu tragen,“ wird ihm geraten. „Aber woher weiß man, dass jemand die Hälfte der eigenen Angst haben möchte?“ entgegnet er. Es entspinnt sich ein Gespräch über die Schwere geteilten Leides, bis Gravel sich mit Hilfe von Rockmusik von seinem Zwängen befreit. Er taumelt, krümmt sich auf dem Boden, richtet sich stolz auf und dreht letztlich Pirouetten auf ausgeschüttetem Bier: „Zeig, dass Du Angst hast und nicht weißt, was Du tun sollst“. Die Musik wird rauer, bis sich die Spannung löst und wie ein Schmetterling davonfliegt.
Selbsttherapie – nackt mit den Hunden weinend
Daina Ashbee verwandelt in „J`ai pleuré avec les chiens – Time, creation, destruction“ die St.-Elisabeth-Kirche zum übergroßen Therapieraum. Aus dem Publikum heraus laufen die Performer* auf allen Vieren, entledigen sich ihrer Kleidung. Sie bilden Zweier- oder Dreiergruppen, balancieren auf dem Rücken des anderen, teils auf einem Bein, machen nackt Akroyoga. Für Ashbee ist die Energie in einem Raum entscheidend. „Für mich erstreckt sich der Körper über die Anatomie hinaus. Es gibt den Körper des Geistes, der Energie, den physischen, fleischlichen Körper und die Knochen. Weil wir in all diesen Körpern leben, besitzen wir so viel Empathie füreinander.“
Menschlicher (Stör-)Faktor
Dann erklingt eine Stimme im Raum. „Ich habe dieses Tape für Menschen aufgenommen, die sich über ihre Gesundheit sorgen. Ich würde gerne eine aktive Rolle darin einnehmen, ihren eigenen Heilungsprozess zu unterstützen.“ Wer sich dem Blick der Performer* verwehrt, bei dem verweilen sie wie ein menschlicher (Stör-)Faktor. Man riecht, hört, spürt, wie sie immer mehr Raum einnehmen. Teils bellend, keifend oder jaulend begeben sich die sechs Performer* in einen tranceartigen Zustand und werden den bellend-weinenden Hunden, nach denen die Performance benannt wurde, immer ähnlicher und das wirkt befremdlich.
Weitere Informationen
Im Rahmen von „Tanz im August“ wurden folgende Performances aufgeführt: Byström Kallbläd „City Horses“ (6. und 7. August), Frédérick Gravel“ (6. und 7. August), Daina Ashbee „J`ai pleuré avec les chiens – Time, creation, destruction“ (9. bis 11. August). Das Festival endet am 27. August 2022